espero 6

Libertäre Zeitschrift, Neue Folge

My Reading Lists:

Create a new list

Check-In

×Close
Add an optional check-in date. Check-in dates are used to track yearly reading goals.
Today


Buy this book

December 15, 2023 | History

espero 6

Libertäre Zeitschrift, Neue Folge

„Für die Erde gilt Alarmstufe Rot“, zu diesem Ergebnis kamen unlängst Forscher:innen um den US-Ökologen William J. Ripple von der Oregon State University in ihrer im Fachjournal BioScience veröffentlichten Weltklima-Studie. Denn, so die Wissenschaftler: „Die Menschheit befindet sich inzwischen eindeutig in einem Klima-Notfall“. Flutkatastrophen, Waldbrände, Hitze­wellen – die globale Klimakrise lässt sich nicht mehr ignorieren.

„Wir sind an einem Punkt angelangt“, so der US-amerikanische Öko-Anarchist John P. Clark in seinem Kommentar zur vorliegenden Ausgabe der espero, „an dem nicht nur das Gedeihen des Lebens auf der Erde, sondern auch sein Überleben nur möglich ist, wenn das System der Herrschaft zerstört und die natürliche Gerechtigkeit wiederhergestellt wird.“ Was Clark unter einem System der „natürlichen Gerechtigkeit“ versteht, das erläutert er in seinem ebenfalls in dieser Ausgabe veröffentlichten Beitrag Was ist Öko-Anarchis­mus?.

Und als ob die globale Klimakrise nicht schon verheerend genug wäre (von den Folgen der Corona-Krise und der mächtig ins Schlingern geratenen Weltwirtschaft ganz zu schweigen), tobt nun schon seit zehn Monaten in der Ukraine ein Krieg, wie man ihn in Europa in dieser menschenverachtenden Vernichtungswut seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Der terroristische Angriffskrieg, den Russland seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, ist jedoch nicht nur ein imperialistischer Feldzug einer Großmacht gegen ein vermeintlich schwächeres Nachbarland, sondern es ist vor allem auch ein Krieg, den das Putin-Regime gegen die eigene Zivilgesellschaft führt. Trotz massiver staatlicher Repres­sionen ebben die Anti-Kriegs-Proteste in Russland nicht ab. Laut OVD, einer russischen Nicht­regierungsorganisation, die eine Statistik über politisch motivierte Verhaftungen führt, wurden in Russland seit Kriegsbeginn über 19.300 Menschen wegen ihrer Opposition gegen Krieg und Putin-Regime verhaftet. Zudem sind inzwischen Hunderttausende Russen ins Ausland geflüchtet, um sich der Rekrutierung und dem Kriegseinsatz zu entziehen, und unter den verbliebenen russischen Soldaten und Rekruten, die sich nicht für Putins Großmachtfantasien an der Front „verheizen“ lassen wollen, kommt es immer häufiger zu Unruhen und Revolten.

Krieg gegen das eigene Volk führt auch das islamistisch-faschistische Mullah-Regime im Iran. Seit dem 16. September 2022, dem Tag der Ermordung der jungen Kurdin Jina Amini durch die iranische Sittenpolizei, ist es landesweit zu Protesten gekommen, auf die das Regime mit aller Härte reagierte. So wurde in mehreren Städten gezielt in die Menge der Demonstrant:innen geschossen. Laut Schätzungen internationaler Menschenrechtler wurden bei der Niederschlagung von Demonstrationen bislang mehr als 470 Menschen von staatlichen Sicherheitskräften umgebracht, und 18.000 Regimegegner:innen wurden seit Mitte September in Foltergefängnissen inhaftiert. Ihre Proteste machen deutlich, dass es den Demonstrant:innen im Iran längst nicht mehr „nur“ um den Kopftuchzwang und um die Frauen­rechte im Allgemeinen geht, sondern vor allem auch um das Ende der 43-jährigen Theokratie.

Sowohl in Russland als auch im Iran steigen also Wut und Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung gegen die herrschenden Diktaturen. Revolution liegt in der Luft. Mit Revolution als radikalem Mittel der Gesellschafts­trans­formation haben sich die Anarchist:innen in ihrer Geschichte schon immer intensiv beschäftigt. Und das nicht nur theoretisch, denn seit der Pariser Commune von 1871 hat es kaum eine sozialrevolutionäre Erhebung auf der Welt gegeben, für die sich nicht auch eine mehr oder weniger deutliche Präsenz von Anarchist:innen nachweisen ließe. Aber in nur wenigen Fällen, wie in der Russischen Revolution, speziell in der Ukraine in den Jahren 1917-1921, sowie in der Spanischen Revolution in den Jahren 1936-1939, war es den anarchistischen und verwandten libertären Bewegungen zumindest zeitweise möglich, ihre Konzepte auf praktische Machbarkeit hin zu überprüfen. Nach dem Sieg der Franco-Faschisten 1939 in Spanien, der das Scheitern der Spanischen Revolution militärisch-politisch besiegelte, mehrten sich innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung die Stimmen, welche eine selbstkritische Befragung des bis dahin bevorzugten Modells von Gesellschaftsveränderung und Revolution einforderten.

Im Zuge dieser ideologischen Revision erreichte der anarchistische Diskurs über einige Jahrzehnte hinweg einen inhaltlichen Stand, der in vielem noch heute inspirierend wirkt. Exemplarisch hierfür steht Rudolf Rocker mit seiner Warnung vor mythologischen Überhöhungen revolutionärer Ansprüche. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass eine Revolution nur dann etwas emanzipatorisch Neues schaffen kann, wenn dieses Neue schon zuvor im Denken, in den Beziehungen und im schöpferischen Tätig-Sein der Menschen konkret geworden ist und auf Bruch der Fesseln drängt. Eine derartige Sichtweise knüpft an die geschichtsphilosophischen Überlegungen an, die Gustav Landauer bereits 1907 in der Schrift Die Revolution ausbreitete. Unser diesmaliger Themenschwerpunkt zur Beziehung von Anarchismus und Revolution beginnt daher noch vor Rockers Aufsatz aus dem Jahr 1952 mit einem Beitrag von Siegbert Wolf über Landauers Geschichts- und Revolutionsverständnis. Darin scheint eine experimentalsozialistische Perspektive auf, die gesellschaftliche Transformation nicht als einmaligen „Tag der Wende“, sondern als Ergebnis einer langen, subversiven Vorbereitung innerhalb der alten Gesellschaft begreift.

Dass deren radikale Umgestaltung dann am wahrscheinlichsten wird, wenn wir zusätzlich all die kleinen Systemstörungen befördern, die alltagspraktisch unserer Reichweite unterliegen, erläutert Tomás Ibáñez. Auch Uri Gordon wendet sich gegen ein revolutionäres Denken, das alle gesellschaftlichen Teilbereiche mechanistisch auf einen imaginären Dreh- und Angelpunkt ausrichten will. Als Gegenmodell thematisiert sein Beitrag die neueren poststrukturalistischen, intersektionalen und queeren Analysen, die das Konzept der Revolution von Endgültigkeitsversprechen und von der inhaltlichen Begrenzung auf die Abschaffung formaler Institutionen befreit haben.

Herrschaftsregime sind vielgestaltig und die inhaltlichen Schwerpunkte der dagegen Kämpfenden unterschiedlich. Auf dem Weg zu einem tragfähigen Revolutionskonzept brauchen wir daher eine anarchistische Synthese, über die sich gemeinsame Prinzipien definieren, Strategien festlegen und Taktiken koordinieren lassen. Dieser These im Beitrag von Gabriel Kuhn begegnet Johann Bauer mit einer gewissen Skepsis. Sein Beitrag, der ein konsequent gewaltfreies Revolutionsverständnis entfaltet und auf dieser Grundlage Fragen nach aktuellen Aufgaben des Anarchismus stellt, beendet unseren diesmaligen Themenschwerpunkt.

Aber auch unabhängig von einer erklärt revolutionären Perspektive bezieht sich libertäres Denken und Handeln immer auf eine Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das ist die inhaltliche Grundmelodie, welche die übrigen Beiträge unserer neuen espero-Ausgabe bei aller thematischen Unterschiedlichkeit verbindet.

Dem Leben und Werk von Henry David Thoreau – einem der wichtigsten Vordenker zivilen Ungehorsams gegen Staat, Armee und Eigentum – widmet Marlies Wanka eine durchaus kritische Untersuchung. Bernhard Rusch analysiert die von Franz Jung herausgegebene Zeitschrift Gegner und verdeutlicht an deren erfolglosem Kampf gegen die aufkommende Nazi-Diktatur ein uns heute wieder bedrängendes Phänomen: Eine Veränderungs­bereitschaft, die aus krassem sozialen Ungleichgewicht resultiert, nützt vor allem Rechtsextremen. Gegenwartsbezüge liefert ebenfalls der Vorabausdruck aus dem neuen Buch von Rolf Raasch. Es behandelt das mexikanische Exil des anarchistischen Schriftstellers B. Traven und verknüpft dessen literarisches Werk mit der aktuellen Lage Mexikos. Kunst und Politik sind zwei sich ergänzende Leidenschaften eines wachen Bewusstseins. Diesem Anspruch fühlt sich auch Ralf Burnicki verpflichtet, dessen Beitrag uns ein Fenster in die faszinierende Welt seiner „Anarcho-Poetry“ öffnet.

Es schließen sich zwei Buchrezensionen und eine Filmkritik an. Auch sie stehen jede auf ihre Art für die Einsicht, dass eine humane und selbstbestimmte Zukunft nur durch den mentalen Gehalt der Hoffnung und durch unser gemeinsames Handeln in der Welt entstehen kann.

Wieder möchten wir uns bei unseren Autor:innen und allen anderen Menschen bedanken, ohne deren Hilfsbereitschaft und Einsatz die Herausgabe dieser Zeitschrift gar nicht möglich wäre.

Das espero-Redaktionskollektiv:
Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück
in Berlin, Frankfurt am Main und Potsdam

(Quelle: espero)

Publish Date
Publisher
Libertad Verlag
Language
German
Pages
282

Buy this book

Edition Availability
Cover of: espero 6
espero 6: Libertäre Zeitschrift, Neue Folge
2023-01, Libertad Verlag
PDF in German

Add another edition?

Book Details


Table of Contents

Editorial
Page 7
DER KOMMENTAR
John P. Clark: Anarchische Gerechtigkeit am Ende der Geschichte – Die Anarchie und das Gesetz der Natur
Page 13
BEITRÄGE ZUM THEMENSCHWERPUNKT: ANARCHISMUS UND REVOLUTION
Siegbert Wolf: „… jede Zeit ist inmitten der Ewigkeit.“ – Gustav Landauers libertärer Blick auf Geschichte und Revolution
Page 21
Quellen
Page 66
Rudolf Rocker: Revolutionsmythologie und revolutionäre Wirklichkeit
Page 75
Revolutionskultus und Revolution
Page 75
Revolution und Gegenrevolution
Page 81
Tomás Ibáñez: Abschied von der Revolution und… Es lebe der große Kladderadatsch…!
Page 89
Einleitende Vorbemerkung
Page 89
Das revolutionäre Projekt
Page 91
Der „anti-libertäre“ Charakter des revolutionären Projekts
Page 93
Der transzendente Charakter der Revolution
Page 96
Die Möglichkeit einer libertären „Umwälzung“ der Gesellschaft
Page 97
Uri Gordon: Revolution
Page 105
Revolution vs. Reform
Page 109
Soziale vs. politische Revolution
Page 113
Die Revolution neu in Frage stellen
Page 121
Literatur
Page 126
Gabriel Kuhn: Revolution ist mehr als ein Wort: 23 Thesen zum Anarchismus
Page 131
Was ist Anarchismus?
Page 132
Der Anarchismus und die Linke: Sozialdemokratie und Leninismus
Page 134
Anarchismus und Revolution
Page 137
Die gegenwärtigen Probleme des Anarchismus
Page 140
Was ist zu tun?
Page 143
Johann Bauer: Die gewaltlose Revolution: Gewaltfrei, radikal-demokratisch, antiautoritär, sozialistisch
Page 151
Selbstkritik eingebaut, aber auch Offenheit für andere Ansätze und Bewegungen
Page 151
Gewalt – keine „Lösung“, sondern ein Problem
Page 154
Form der Herrschaft oder Form der Befreiung?
Page 157
„Autorität macht dumm, Autorität tötet!“
Page 159
Probleme des Sozialismus, offene Fragen
Page 165
Die große Überraschung: Proudhon
Page 166
Man kann ein Buch gegen Ausgrenzung schreiben – und damit ausgrenzen!
Page 167
Politik oder Anti-Politik?
Page 169
Marxistische Geschichtsmetaphysik
Page 174
Keine Experimente?
Page 175
Ein sozialdemokratisches Programm
Page 176
Klassenkampf
Page 180
Literaturverzeichnis
Page 182
BEITRÄGE ZU VERSCHIEDENEN THEMEN
John P. Clark: Was ist Öko-Anarchismus?
Page 187
Der Eintritt in das Nekrozän
Page 188
Das Verstehen von Ursachen und Bedingungen
Page 190
Die Politik der direkten Aktion
Page 191
Eine Politik der sozialen Transformation
Page 193
Eine neue ökologische Gesellschaft
Page 195
Die erwachte Erdgemeinschaft
Page 197
Literatur
Page 198
Marlies Wanka: Henry David Thoreau
Page 201
„Jage dem Leben nach“
Page 201
„Jeder Morgen war eine frohe Aufforderung, mein Leben so einfach, und ich darf sagen, so unschuldig zu gestalten wie die Natur selbst“
Page 202
„Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: ‚Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert‘“
Page 204
Henry David Thoreau und seine Wirkung auf die, die nach ihm kamen
Page 204
Bernhard Rusch: Franz Jung und die Zeitschrift Gegner am Vorabend der „Machtergreifung“
Page 207
Rahmenbedingungen
Page 207
Die Zeitschrift Gegner
Page 208
Ernst Fuhrmanns grundlegende Ansätze
Page 210
Adrien Turel
Page 213
Die Nähe Raoul Hausmanns zu „deutschen“ Wissenschaften
Page 215
Der Herausgeber Franz Jung
Page 217
Politische Einordnung
Page 219
Bewertung
Page 221
Quellen
Page 223
Rolf Raasch: Fluchtpunkt Mexiko: Das Exil des B. Traven
Page 227
Ankündigung einer politisch-literarischen Neuerscheinung
Page 227
Vorabauszug
Page 228
Ralf Burnicki: „Anarcho-Poetry“ – Kleine Auswahl mit Eingangswort
Page 243
REZENSIONEN
Jochen Schmück: Ein hoffnungsvoller Blick zurück nach vorn – Die Geschichte der Menschheit aus libertärer Sicht
Page 254
Markus Henning: „Auge in Auge mit dem Staat“: Anarchistische Justizkritik von Pierre Ramus
Page 264
Rolf Raasch: El Entusiasmo – Eine Filmkritik
Page 268
Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe
Page 271

Edition Notes

Published in
Potsdam, Germany
Series
espero (Neue Folge), 6

Contributors

Editor
Markus Henning
Editor
Jochen Knoblauch
Editor
Rolf Raasch
Editor
Jochen Schmück

The Physical Object

Format
PDF
Pagination
282p.
Number of pages
282

ID Numbers

Open Library
OL50482678M
ISSN
2700-1598

Links outside Open Library

Community Reviews (0)

Feedback?
No community reviews have been submitted for this work.

History

Download catalog record: RDF / JSON / OPDS | Wikipedia citation
December 15, 2023 Edited by Gustav-Landauer-Bibliothek Witten details
December 14, 2023 Edited by Gustav-Landauer-Bibliothek Witten desc
December 14, 2023 Edited by Gustav-Landauer-Bibliothek Witten details
December 14, 2023 Edited by Gustav-Landauer-Bibliothek Witten //covers.openlibrary.org/b/id/14555036-S.jpg
December 14, 2023 Created by Gustav-Landauer-Bibliothek Witten Ein neues Buch hinzugefügt.